Dieser eine magische Moment

15. April 2014 | Von | Kategorie: Autor

Blitzstrahlen aus grauem Himmel. Spots kreuzen sich. Kaum zu beschreiben.

Aufbruch zu einer neuen Schule, Klasse neun genannt Obertertia. Alles fremd. Leichte Beklemmung. Eine halbe Stunde früher aufstehen. Anderthalb Kilometer laufen. Morgentraining. Fast alle Sportkameraden fuhren aus unerfindlichen Gründen mit der Bahn, obwohl der Bus praktisch vor der Haustür hielt. Irgendwie war Bus uncool. Er wäre ihr nie begegnet … eine unbekannte Macht wollte es anders.

Verschwitzt bog er mit einem Klassenkameraden um die Ecke am zerbombten Bahnhof. Der Kontrolleur am Durchlass zum offenen Bahnsteig blinzelte gähnend auf Dauerkarten, knipste hie und da lustlos einen Einzelfahrschein. Schwindsüchtige Laternen stritten vergeblich mit der Morgendämmerung. Mürrische Mienen auf dem Weg zu Arbeit oder Schule.

Eine Gruppe aus drei, vier, fünf Mädchen und Jungen – darunter der baumlange Hochspringer, ein Jahr älter, und ein Ersatzspieler der Fußballmannschaft – lachte und alberte. Mitten drin – das fremde Mädchen mit den schulterlangen, glatten, champagnerblonden Haaren, strahlend vergissmeinnichtblauen Augen, einer frechen Nase. Perlweiß blitzende Zähne zwischen kirschroten Lippen, den Kopf im Lachen zurückwerfend. Eine schlanke Gestalt, einem langbeinigen Füllen ähnlich, tänzelte durch den Raum.

Umweht von einem hellblauen Popelinemantel, bei flachen Absätzen geschätzt 175 cm groß. Die hellbraune Schultasche klemmte unter den Arm, gestützt auf die weit ausgestellte Hüfte.

Die Erde unter seinen Füßen schien zu wanken, seine Knie versagten ihren Dienst. Dieses Bild brannte sich auf seiner Seele, in seinem Gedächtnis ein: Wie sich genau in dieser Sekunde ihr Kopf nach rechts drehte, wie sie genau in diesem einen magischen Moment ihn erblickte, wie alle anderen um sie herum sich in Luft auflösten, ihre Blicke sich trafen, verharrten, irritiert abwandten, verlegen einander wieder fanden und – nicht mehr los ließen. In sein und ihr Herz blickten. Um sie herum wuseliges Treiben der zum Zug Hastenden, Geschwätz, Lachen, Gedränge. Atemlosigkeit zwischen ihnen.

Verwirrt kletterte er in den Zug. Leider wählte er den falschen Waggon. Kein Verbindungsgang zu dem nächsten, in dem sie saß. Bereits mittags, nach Schulende, zog ihn mit leichtem Widerwillen der hintere Waggon des Triebwagenzuges an, der für Raucher, in dem sie Platz nahm, umgeben von gurrenden Verehrern. Ein paar Worte zu den Nachbarn, Lachen, aber ihre Blicke umfingen einander. Eine eigene kleine Welt entstand. Halb betäubt rauschte das Treiben der Mitschüler über sie hinweg.

Wenige Tage später wagte er, sich in die Dreierreihe gegenüber zu drängen. Katja hieß sie, Realschülerin, aus dem Nachbardorf, ging in die achte Klasse. Alles das wusste er längst. Kein fester Freund. Natürlich. In dem Alter?
Sie wusste zu seinem Erstaunen – es ließ ihn innerlich jubeln, schreien – beinahe alles über ihn.

Als er beim Aussteigen neben ihr stand, sie wie unabsichtlich streifte, Samthaut berührte, schwachen Mädchenduft einsog, stellte er fest: Es passte perfekt. Alles passte perfekt.  Sie war genau das Mädchen, von dem er nicht einmal geträumt hatte, weil er nicht wusste, dass es ein Geschöpf wie dieses gab, und er der Junge ihrer Träume. Zwei Wochen später wagte er sie zu fragen, ob sie mit ihm auf die große Kirmes gehen wollte, und sie strahlte ihn an: Ja!

Der erste scheue Kuss unter dem Raupenverdeck brachte ihn um den Verstand, brannte ewig lange auf seinen Lippen. Auf Fotos, beider kostbarster Besitz, schworen sie sich ewige Liebe.

Unzertrennlich wie sie nun waren, spürte er den Neid, die Eifersucht ihrer wie er naiv fest stellte zahlreichen Verehrer, und entkam nur mit Glück dank schneller Beine rüden Attacken, musste sich notfalls handfest wehren oder sein Mädchen schlagbereit schützen. Selbst Lehrer mokierten sich über das Pärchen – wirkungslos. Gleichermaßen naiv bemerkte er nur ganz am Rande aufkeimendes Interesse der wie ihm klar wurde Hauptrivalinnen auf dem Nur-zwei-von-hundert-Boulevard der Cheerleaderinnen. Ja, die kurvige „Bardot“ Dorit und die kalte „Elizabeth Taylor“ Iris konnten einen Jungen umhauen – aber .. drei Klämmerchen in den angesagten Farben an der Jacke: Verliebt – Vergeben – Versuch zwecklos.

Trunken vor Glück saßen sie auf einer verschwiegenen Bank im Park, eng aneinander geschmiegt. Ihre Hände verschränkten sich unlösbar. Sie lehnte oft ihren Kopf an seine Schulter, blickte in seine Augen und flüsterte „Bei dir fühle ich mich soo sicher“. „Ja“, erwiderte er dann leise, „ich werde dich gegen jeden und alles beschützen.“ Dann kam es vor, dass sie gegenseitig Glückstränchen hinweg küssten.

Ein halbes Jahr Teenagerglück. Einen Honigsommer lang flog der süße Vogel Jugend. Ließ sie schweben. Dann zogen ihre Eltern in eine andere Stadt. Aber da war es sowieso schon vorbei. Er hatte sich wie ein Trottel verhalten, zu unbegründeter Eifersucht treiben lassen. Mandelbitterer Winter.

Ein einziges Mal noch strebte sie Jahre später in einer Menge an ihm vorbei, im Halbdunkel einer Bahnunterführung. Kaum erkannte er sie, sie hatte ihr seidenglänzendes Haar abgeschnitten. Blickte an ihm vorbei, presste die Lippen zusammen. Vielleicht hatte sie ihn nicht bemerkt, aber irgendwie spürte er negative Schwingungen. Wäre der Lichtstrahl aus dem All aufgeleuchtet wie damals, er wäre auf der Stelle vor ihr auf die Knie gesunken, hätte Vergebung erbettelt, das wusste er – Sekunden zu spät. Die Wunde war noch nicht wirklich verheilt.

Aber kein Erdbeben.

Keine weichen Knie.

Der Zauber war verflogen, aber nie dieser eine magische Moment.

 

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